Mein Vater ist im Sterben. Er liegt nicht. Er ist. Mitten auf dem Weg.
Mein Vater ist seit vielen Monaten auf diesem Weg. Die nicht enden wollenden Wege ins Krankenhaus hinein und heraus, ohne sichtbaren Erfolg, kosten ihn viel Kraft. „Ich will meine Ruhe !“. Seine müden Augen unterstreichen seinen weichen Händedruck der sich an mir festhält und mich um etwas bittet, was ich ihm nicht geben kann. Ich fühle eine große Hilflosigkeit, denn so sehr sich mein Vater Frieden wünscht, so sehr hat er Angst anzunehmen, was nicht aufhaltbar ist und sich hinzugeben an das, was das Leben jetzt bringt.
Ich kann ihn so gut verstehen! Wie oft halte auch ich fest; Gefühle, Situationen, Augenblicke, Begegnungen … und dennoch sehe ich als Außenstehende das selbst gemachte Leid, aus dem niemand erlöst werden kann. Auf den Gedanken „Die Ärzte können mir eh nicht helfen“ folgt „aber ich muss ja was machen, damit alles endlich wieder richtig gut wird.“
Was ist in dieser Phase eines Lebens – wieder richtig gut ? –
Kann es jemals so sein, wie es war? Das Leben ist Wandel in jedem Augenblick. Doch das versteht mein Vater nicht. Er will es im Grunde weder verstehen noch begreifen und diese Wahrheit nahe kommen lassen. Er „lebt“ lieber in der Zukunft oder in der Vergangenheit, Orte die nicht existieren. Ich muss schmunzeln. Wie oft beschwert sich mein Vater über das Wetter „ die haben doch was andres angesagt!!“ , als wären unsere Gedanken die Wirklichkeit. Ein Kindskopf im erwachsenen Körper…
Mir ist zum Heulen. Der Kloß im Hals behindert meinen Atem: jetzt halte ich mich an den weichen Händen meines Vaters fest. Ich sitze an seinem Bettrand, es duftet nach Lavendel. Mein Vater liebt es, wenn ich ihn alle zwei Tage besuche und seine Füße massiere.
So nah waren wir uns noch nie. Und die Liebe, die immer zwischen uns war, die ich nicht fühlen konnte, weil mein Vater sie nicht wie von mir erwartet in Worte gepackt hat (weil er eben ein schweigsamer Mann ist) sie ist jetzt fühlbar und heilt Kinderwunden. Meine und seine.
Die Schwäche seines Körpers nimmt nicht ab, das tägliche mehrmalige Messen seiner Werte ändert nichts an dem Zustand meines Vaters (als könne damit irgend etwas geheilt werden). Doch. Mein Vater ist so weich, so nah an sich selbst wie nie zuvor. All das macht ihn mürbe (und das ist schmerzlich anzusehen), doch damit auch empfänglicher und zugewandter. Das fühlt sich gesund an. Ein fleißiger Mann, immer bemüht, alles richtig zu machen, Pflichten zu erfüllen, die Arbeit der Mittelpunkt des Lebens… So viel ungesunde Härte, so viel Gewalt gegen sich selbst – der unaufhaltbare Krebs in seinem Körper ein Spiegel.
Ich erinnere mich, wenn ich an meine Kindheit denke, nur an Bilder, in denen mein Vater das Haus verlässt. Wie er an mir vorüber geht, immer etwas in den Händen, beschäftigt eben. Ist er jemals stehen geblieben, um mich zu bemerken, mir ein Lächeln zu schenken, eine Umarmung? Ich erinnere mich nicht. Und dennoch – ich liebe ihn, meinen eher abwesenden, meinen stillen Papa. Und je mehr ich mich berühren lasse von seiner körperlichen Vergänglichkeit, umso näher komme ich mir selbst. Umso mehr sehe ich das tiefere Wesen hinter seiner ausgedachten Persönlichkeit.
All das berührt mein Herz und verkrustete Schichten, die auch ich in mir trage, brechen auf.
Da gibt es nichts zu verzeihen oder zu klären zwischen uns. Das, was sich jetzt zeigt, ist der Balsam und ich kann es wieder einmal sehen – er war der beste Vater, der er sein konnte. Mein Vater, der auch ohne Vater aufwuchs. Sein Vater hat ihm, als er ein 10-jähriger Junge war, vor Mitgliedern seiner Partei mitgeteilt, dass „dieses Balg, dieser Schwächling nicht sein Kind sei“. Wie soll ein Mensch sich mit dieser Erfahrung gut spüren können? Geboren in den letzten Kriegsjahren, niemanden, der ihn an die Hand nahm… Die Mutter beschäftigt, um das nötigste Essen zu besorgen. Die innere Immigration schien der beste Ausweg aus dem Leid dieses Jungen.
Mein Vater liegt im Sterben und will es nicht wahrhaben.
Seine unruhigen Augen huschen hin und her. Manchmal weint er. Dann erzählt er mir von der inneren Qual der Gedanken, die ihm erzählen, er hätte alles falsch gemacht, wäre nicht genügend. Dann weinen wir beide. Ich, weil ich erkennen kann, was mein Vater mit seiner Abwesenheit durch ständiges Tun versucht hat zu erreichen – geliebt zu werden. Mein Vater weint, weil der alte Schmerz seines Lebens jetzt endlich ins Fließen kommen darf und ich ihm wortlos und liebevoll zugewandt bedingungslos zuhöre.
Manchmal füllt nach so einer Begegnung ein tieferer Atemzug seine Brust – bis zu dieser Grenze, die ihn im Laufe seines Lebens durch diese innere Selbstkasteiung eng gemacht hat.
Ich nehme das Vergängliche in den Arm. Jede Begegnung mit meinem Vater führt mich mehr aus der horizontalen Linie des Erlebens. Schicht für Schicht schmilzt die Figur meines Vaters dahin. Ich fühle mich beschenkt und nehme diese inneren Berührungen durch sein so Sein mit in meinen Alltag. Überall begegnet er mir, so wie er jetzt ist – ungeschminkt und ehrlich:
Ich spüre meine Verbindung zu ihm, wenn mich die welkenden, bunt werdenden Blätter am Ahorn im Hof entgegen leuchten und mir ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Ich spüre meine Verbindung zu ihm, wenn meine Kinder nach einer längeren Sommerreise mit ihrem Vater vor mir stehen und ich denke „Mein Gott, schon wieder ein Stück erwachsener geworden, bald werden sie gehen“. Ich spüre meine Verbindung zu ihm, wenn ich mich Abends wundere, dass der Tag vorüber ist, wo sind denn die Stunden, Minuten und Sekunden hin?
Mein Vater schenkt mir durch seinen Weg, sein Vergehen im Äußerlichen ein Innehalten, ein Langsamer werden und eine Nähe trotz räumlicher Entfernung, die mit Körperlichkeit nicht zu erreichen ist. Er lässt mich erfahren, Es liegt an mir, ob ich es erkennen kann. Es hat mit dem Außen nichts zu tun. Er schenkt mir die Kraft, die in der Akzeptanz meiner Hilflosigkeit und Unsicherheit liegt, weil das Leben nicht kontrollierbar ist, ich meinen Vater nicht „retten“ kann. Das wollte ich immer als Kind, weil ich seine tiefe Traurigkeit so stark spürte. Nun hat auch das ein Ende in mir.
Jetzt nimmt mich das Vergängliche in den Arm.
Da ist es wieder, jenes Gefühl, das ich seit dem ersten Moment auf meinem Weg als Bestatterin hatte:
Der Tod zeigt mir, was Liebe wirklich ist.