Das Telefon klingelt. Zaghaft meldet sich Noah am anderen Ende der Leitung. Stille.
„Noah, bist Du es, kann ich etwas für dich tun?“. „Ja“, ich wollte mal fragen, ….“
Noah ist 14 Jahre alt. Ein zurückhaltender Junge, Fragen stellend im Blick, die Dinge aus einer sicheren Entfernung beobachtend.
Als ich an diesem Morgen zum zweiten mal in die Familie komme, um den verstorbenen Leib des geliebten Vaters gemeinsam mit Familie und Freunden in den Sarg zu betten, da wollte Noah nicht dabei sein
Im Zimmer nebenan, nur die alte Flügeltür der liebevoll eingerichteten 4-Zimmer-Wohnugg trennt uns, spührte ich Noahs Herz durch die Wand schlagen. Er ging seinen eigenen Weg mit dem Abschied vom Vater. Klara, seine Mutter, hatte mir erzählt, das Noah ein sehr klares Gefühl dafür hat, das wir „nur“ den Körper seines Vaters beerdigen. „die anderen sollen nicht sehen, wenn ich weine“.
Alles kann nur Einladung sein.
Dem Fluss seinen Lauf lassen.
Ich weiss, in meiner Akzeptanz der Entscheidung liegt die Chance für ein – Vielleicht – zu einem späteren Moment…
Ich verlasse das Zimmer. Klara, Noahs Mutter, und Noah schmücken den Sarg. Noah gibt seinen Stoffhasen, den er seit seinem 3. Lebensjahres bei sich hat, seinem Vater mit auf die Reise. Vaters Hut, Fotos der gemeinsamen Reise nach Peru und die Rosen, die seit dem Tod von Per an seinem Sterbebett stehen. Ihre Blätter welken seit der Totenschein ausgefüllt auf dem Küchentisch liegt und in seiner bürokratischen gelben Farbe fast schreit, was unfassbar ist.
Und die Rosen? Als wollten sie Per auf seinem Weg begleiten, ihm sagen: „Du musst das nicht alleine machen, schau her, wir kommen mit dir mit, wir zeigen dir, wie es geht in der Natur, der Lauf der Dinge“.
Als wir später den Sarg die knarrenden Stufen des alten Kreuzberger Hause heruntertragen und unten auf der Straße dem bunten Treiben wie einem Schlag ins Gesicht begegnen, da geht mein Blick zum Fenster der Wohnung im 1. Stock.
Noah steht da, mit der Stirn am Fenster lehnend. Er winkt. Er winkt als wollte er sagen: „Ich bin auch dabei, aber ich kann euch meine Tränen nicht zeigen, bitte versteht das“. Ich winke zurück. Tränen steigen mir in die Augen. Sie sprechen mit Noah über die 10 Meter die uns nur scheinbar trennen. Mein Gefühl sagt mir, das meine Antwort ohne Worte bei Noah längst angekommen ist: „Es ist alles gut so Noah. Ich bin da. Wann immer du magst“.
Lange stehe ich mit Klara auf dem Bürgersteig. Ich lege meine Arme um ihre Schultern. Sie sinkt hinein. Das Gehaltenwerden tut gut. Wir schauen dem Auto mit dem Sarg hinterher, bis es irgendwo Schlesische Straße zwischen hupenden Autos am Horizont entschwindet. Am Fenster im 1. Stock steht Noah. Ich fahre dem Auto hinterher. Und Klara geht zu Noah.
Als Noah am Telefon zaghaft Kontakt zu mir aufnimmt, schlage ich vor, uns zu treffen und raus in die Natur zu fahren. Ich lade ihn zu einem Geh-Spräch ein.
Im Auto schweigen wir. Ich sage Noah, das gemeinsam Schweigen etwas sehr Schönes für mich ist. Er nickt. „Das haben Pa und ich oft gemacht“. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sich Noahs Hände entspannen. Es muss für ihn ein großer Schritt sein, sich mit mir auf diesen Weg zu begeben. Der Junge hat ein gutes Gespür dafür, was gut ist.
Später gehen wir der weiten grünen Wiese in Lübars entgegen. Ein sonniger Tag, die letzten Mücken schwirren in der Luft, irgendo kräht ein Hahn, ein bischen wie im Bilderbuch. Ich bin dankbar, dieses Wetter zaubert eine gute Stimmung ins Herz, auch wenn Noahs schwer ist und voll Trauer.
Wir gehen. Noah, die Händen in den Taschen, die Kapuze über den Kopf, ein 14-Jähriger eben, ein junger Mensch, der in dieser Phase seines Leben genügend Fragen mit sich trägt, Unsicherheit erlebt und sich lieber verkriechen möchte als sich zu äußern. Es ist gut, das ich selbst so einen Jungen habe. Ich verstehe gut, auch meine eigene Jugend ist mir noch nahe…
Mit jedem Schritt habe ich das Gefühl, das eine Stille zwischen Noah und mir einkehrt, die zum Sprechen einlädt. Ich mache einen Witz, wir lachen. „Darf ich eigentlich lachen, wenn Pa gestorben ist?“
Wir kommen ins Gespräch. Einen Schritt nach dem anderen hilft das Gehen Noah, dem inneren Fluss wieder seinen Lauf zu lassen.
Dann bricht der Damm. Tränen kullern an Noahs Wangen hinunter, Tropfen an der Nase. Ein Taschentuch wandert von mir in Noahs Hände. „Danke“.
Noah erzählt von seinem geliebten Stoffhasen, den er Per mitgeben musste, weil er das Gefühl hat, sein Pa kann ohne seine Liebe seinen Weg nicht finden. Noah fühlt sich schuldig, weil er seinen Pa nicht vor dem Tod retten konnte. Ich höre zu. Die Weite der Wiese hat uns längst aufgenommen. Auf einem umgekippten Baumstamm sitzend, knabbern wir Kekse. Ich höre zu. Lange. Es wird kühler…
Später dann rede ich. Wir gehen wieder. Jetzt fühlt es sich richtiger an, uns nicht anzuschauen. Das Gehen macht möglich, das Noah meinen Antworten folgen kann. Ich spüre wie sein System entspannt, weiter und weicher wird, eine Last von ihm weicht.
Wir schauen mit den Fragen die ich stelle, jetzt gemeinsam hin. Wir kommen in den Dialog. Wäre es wirklich besser für Per gewesen, weiter Morhpine zu nehmen, um in seinem schmerzhaften Zustand weiter zu leben? Was ist der Tod? Können wir das Leben kontrollieren? Was genau ist die Scham über Tränen und Trauer? Dürfen Mädchen heulen und Jungs nicht?
Noah wird wacher und wacher, Ärger und Freude kommen an die Oberfläche. Dann ist er wieder an der Reihe. Er erzählt sprudelnd wie ein Bach, was er die letzten Tage im Sterbeprozess seines Vater erlebt hat. Der Raum der entstand, die Energie. Noah ist sich sehr sicher, das sein Pa irgendwo weiter lebt. Noah ist für sein alter ein reifer Junge. Ein Junge, der auf irgend eine Weise früh gelernt hat, für seinen Vater sorgen zu müssen. Jetzt kommt ein neuer Strom von Tränen. „Pa war oft so hart. Ich liebe ihn wirklich sehr und wir haben tolle Sachen miteinander gemacht. Aber manchmal, weisst Du, da hab ich mir so sehr gewünscht, das er mich einfach in den Arm nimmt. Irgendwie konnte er das nicht. Aber wenn ich dann zu ihm hin bin, dann ging es besser. Da hab ich mir gedacht, der Paps braucht meine Liebe. So wie eine Art Türklinke, die man zum öffnen einer schweren Tür benutzt“.
Ich bin berührt und staune. Ich teile das was in mir geschieht, offen mit. Ich teile es mit Worten aus dem Ehrlichen Mitteilen. So kann Noah meine Antworten gut nehmen.
„ Und der Stoffhase Noah? – Fehlt er dir jetzt?“. Noah druckst rum. „Naja, schon, aber so ists trotzdem richtig.“
Ich schlage ihm vor, zu überlegen, ob es etwas Neues geben kann. Etwas, dass den Platz des Hasen einnimmt. Natürlich nicht gleich. Lücken in unserem Leben sind sehr wichtig. Wir brauchen sie, um zu trauern, um etwas wirklich in der Tiefe abschließen und loslassen zu könne, ohne es mit einem Ersatz für etwas, was wir uns vielleicht auch nur selbst geben können, füllen zu wollen; dem Wandel, Dem Übergang Raum zu geben…
Jetzt sprechen wir über Lücken, Zahnlücken, Freundschaftslücken. Noah beginnt andere Wörter dafür zu finden: Löcher, Freiräume, Schwachstellen…wir lachen, ein Paar Kekskrümel sind noch auf dem Boden der Tüte zu finden. Unsere Blicke begenet sich. Noahs blaue Augen leuchten. Er bekommt Hunger. Wir machen uns auf den Weg zum Auto.
„Darf ich im Krematorium noch etwas auf Pa`s Sarg schreiben?“ „
„Darf ich auch schreiben: Scheisse Alter, du fehlst mir!“
„Darf ich nochmal in den Sarg schauen, wie sein Körper sich verändert?“
„Darf ich die Asche anfassen?“
Klar Noah, all das darfst Du. Alles ist da und alles ist genau so richtig. Nur so kann der Fluss seinen Lauf nehmen. Verstehst Du? Noah versteht.
Als ich Noah in die Schlesische Straße zurückbringe, da sitzt ein Junge vor mir, der entspannter ist. Irgendwie ein anderer Noah. Ein Junge, der erlebt hat, dass es nicht gefährlich ist, anderen die Trauer, die Unsicherheit und die Tränen zu zeigen. Ein Junge, der sich getraut hat, trotz Angst Fragen zu stellen und der erleben konnte, das die Antworten selbst nicht bedrohlich sind, nur die Ideen in uns, was kommen könnte. Ich sehe einen Jungen der ein gutes Gefühl für sich selbst hat und dem Fluss des Lebens mehr Raum gegeben hat.
„Tschüss“, Noah grinzt mich an. Zum ersten mal sehe ich die kleine Spalte zwischen seinen Schneidezähnen. Wir lachen.
„Tschüss Noah“. Bis bald.